In einer Nervenklinik vertraut Heleen des Nachts einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. So beginnt der Klappentext des Romans »Die Beichte einer Nacht« von Marianne Philips. Diese Beschreibung ist umfassend, der Roman ist ein Monolog. Jedenfalls bis Seite 140, dem Punkt, an dem ich diesen Text schreibe. Das klingt nach wenig, ist aber viel, ist ein ganzes Leben. Ein bemerkenswertes Buch, so reduziert, so anders. Ein Buch, das man liest, weil einen die besagte Heleen mit jedem Satz ihrer Geschichte mehr zu interessieren beginnt.
Ich setze mich zu Ihnen, Schwester.
Der erste Satz
Es gibt keinen Erzähler, der aus übergeordneter Perspektive eine Situation beschreibt oder erklärt. Dieses Buch malt einem keine Bilder in den Kopf, entwickelt keine Szenen, in welche die Protagonisten gesetzt werden. Weil Monologe so nicht sind. Wenn unsereins jemandem von einer Begegnung erzählt, beschreiben wir auch nicht die Bilder an den Wänden und den Duft, der in der Luft liegt. Auch die Nachtschwester ist nicht aktiv, in diesem Roman. Sie macht nichts, sie spricht nicht, sie ist ist wie weggeschnitten. Alles ist Heleen. Jedes Wort ist ihre Aussage. Für mich als Leser ist es, als säße ich in einem dunklen Raum, hörte Heleen reden und sähe nichts. Bis hierhin kann ich mir nicht mal sicher sein, dass die Nachtschwester überhaupt existiert.
Doch stickum mag ich in diesem Raum sitzen bleiben und weiter zuhören, weil Heleen viel zu erzählen hat. Und weil sie nicht prahlt. Weil sie keine Memoiren formuliert, sondern weil sie Erinnerungen teilt und dabei so ehrlich ist, wie man sich selbst gegenüber wird, wenn man die Dinge mit Abstand betrachtet und gerade nichts erreichen muss. Heleen erzählt sich ihre Geschichte vor allem selbst und wird sich einiger Dinge dabei selbst erstmals bewusst.

Heleen erzählt von den Schwierigkeiten im Elternhaus, als sie noch das Leentje war und sich als Älteste von zehn Geschwistern wie eine Ersatzmutter um die jüngste, um Lientje kümmern musste. Wie sie alles daran setzte, von dort wegzukommen. Sie beschreibt die Momente ihrer Erkenntnis, arm zu sein, und ihrer Erkenntnis, als schön geachtet und begehrt zu werden. Sie beschreibt ihr Vorankommen. Was Begegnungen mit ihr machten. Sie beschreibt ihre Träume von damals, aber auch ihre Ängste und wie beides, gepaart mit den Umständen, ihrem Leben immer wieder neue Pfade eröffnete.
Dass Hannes die große Liebe Heleens war, steht bereits im Klappentext. Bis Seite 140 erwähnt sie ihn nur selten – so weit ist sie bis dahin in ihrer Lebensgeschichte noch nicht. Auch dass es letztlich ihre früh aufkeimende Wut gegen ihre Schwester Lientje war, die sie in die Nervenklinik führte, ist schnell klar. Ob Heleen jemandem was antat oder welcher Ausbruch ihres Inneren sie in die Anstalt brachte, wird ein Teil der Spannung der zweiten Hälfte sein. Aber schon zur Hälfte ist zu erkennen, dass es in diesem Roman am Beispiel Heleens vor allem um die Darstellung der Abzweige geht, die einen Lebensweg kennzeichnen, und was der eingeschlagene Weg aus einem macht. Das ist umso spannender, desto häufiger man sich nicht bereitwillig von Heleens Darstellung vereinnahmen lässt, sondern sich immer wieder bewusst macht, dass Heleen sie selbst ist, eben ihre Sichtweise und keineswegs eine objektiv formulierte Geschichte erzählt. Da mag man dranbleiben, das lässt mich den Roman auf jeden Fall zu Ende lesen.
Nein – ich muss es aber erzählen, bis zum Ende. Es ist auch meinetwegen, mir wird etwas klar.
Bleiben Sie sitzen! Sitzen Sie doch still …! Die andern bewegen sich schon, gleich wachen sie auf … und mir wird gerade etwas klar.
Seite 140
Die Beichte – niederländisch »De biecht« – erschien in den Niederlanden im Jahr 1930 und war der zweite Roman der 1886 in Amsterdam geborenen Marianne Philips. Ihr erstes Werk veröffentlichte sie ein Jahr zuvor, im Alter von 43 Jahren. Philips war Sozialdemokratin und seit 1919 eine der ersten Frauen im Stadtrat der Nord-Holländischen Stadt Bussum. In der Zeit des Nazi-Terrors musste die Jüdin untertauchen, um sich einer Verhaftung und der geplanten Einweisung in das Konzentrationslager Herzogenbusch zu entziehen. Bis 1950 hat Marianne Philips sechs Romane und drei Bände mit Novellen veröffentlicht. Das Hauptthema ihres Werks sei das »Streben nach Reife und der Entwicklung einer individuellen Identität aus einer nicht harmonischen Familie«, ist in der niederländischen Wikipedia zu lesen. Dem entspricht das hier besprochene Buch zweifellos.
»Die Beichte einer Nacht« von Marianne Philips ist am 28.04.2021 im Diogenes Verlag erschienen. Die gebundene Printausgabe hat 288 Seiten. Mein Text beschreibt meine Eindrücke nach der Lektüre der ersten 140 Seiten (Leseexemplar). Warum ich »Halbe Bücher« rezensiere, habe ich hier erklärt.
Lieber Torsten, ich finde die Idee mit den halben Büchern sehr spannend. Und schon ist es passiert: ich muss dringend wissen, wie es denn weitergeht mit Heleen, will sowieso mehr wissen über diese Frau und ihre Beichte. Das Buch ist schon geordert (natürlich bei der Buchhändlerin meines Vertrauens). Danke für die Anregung!
Ich stelle mir gerade die Frage, wie du überhaupt auf das Buch gekommen bist? Ist ja nun nicht die klassische Literatur, die einem in der Buchhandlung direkt ins Auge springt. Zumindest würde sie es mir ehrlicherweise nicht wirklich. Aber dein Bericht macht tatsächlich selbst mich neugierig. Ob es reicht, mir das Buch zuzulegen, weiß ich noch nicht, aber wer weiß. :-)
Die Berichte einer Nacht, handelt von Heleen, die in einer Nervenklinik untergebracht ist und dort einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte erzählt. Ihre nicht so schöne und harte Kindheit, die Ehe mit einem älteren Mann, dann der Beginn und das Ende mit ihrer grossen Liebe Hannes und eben auch den Grund, warum sie in der Klinik ist.
Mich hat dieses Buch absolut begeistert, so eine intensive Sprache und das obwohl es als Monolog geschrieben ist. Tiefgründig, interessant, traurig, spannend, diese Geschichte kann man nicht wieder vergessen, sie bleibt im Kopf. Wenn man bedenkt wann das Buch geschrieben wurde, finde ich es noch beeindruckender. Zeitlos und eine Autorin die ihrer Zeit weit voraus war. Ich glaube selbst in weiteren 90 Jahren kann man die Geschichte noch lesen. Man fühlt sich trotz allem mit der Hauptdarstellerin verbunden und würde ihr so gerne helfen. Mich hat Werk sehr bewegt und lässt mich wirklich ergriffen zurück. Ein literarisches Meisterwerk, das hoffentlich der Autorin posthum, großen Respekt und Anerkennung zollen wird. Eine absolute Leseempfehlung!