Halbe Bücher: Das Archiv der Gefühle

Ich weiß nicht wie er heißt und ich weiß nicht genau, wie alt er ist. Er lebt in der Schweiz. Er ist Archivar und er ist ohne Anstellung, seit seine Stelle im Pressehaus abgebaut wurde. Ohne Arbeit ist er nicht, denn er hat das Archiv mitgenommen.

Früher am Tag hat es ein wenig geregnet, jetzt ist der Himmel nur noch teilweise bewölkt mit kleinen, kräftigen Wolken, deren Ränder weiß leuchten im Sonnenlicht.

Der erste Satz

Es ist ein wunderlicher Mann ohne Namen, die Hauptfigur in »Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm. Einer, der mich in sein Denken mitnimmt, der sich mir durch seine Selbstreflektion vorstellt. Er beschreibt sein Jetzt und erzählt parallel doch seine Lebensgeschichte chronologisch. Meist in Erinnerungen, manchmal allerdings auch nur in Phantasien. Außerdem ist von Beginn an Franziska dabei, in seinem Kopf, mit der er sich unterhält. Es sind die einzigen Dialoge, die er führt. Franziska, die Frau seines Lebens, die ihm einst sagte, dass sie ihn nicht liebe. Schon der Text auf dem Schutzumschlag verrät, dass Franziska wieder auftauchen wird. Aber da bin ich noch längst nicht.

Der Mann ist jenseits dessen, was unsere Gesellschaft als normal erachten würde, wenn sie sein Leben denn mitbekäme, was er zu verhindern sucht. Nicht der Gesellschaft wegen, sondern seinetwegen. Schon als Kind war er gerne alleine, mochte die Wiederholung lieber als Veränderung, stellte sich Freundschaften lieber vor statt sie zu leben. Nur Franziska war immer da.
Dass er ein Archiv in seinem Haus eingerichtet hat, ist die Krönung seiner Beschreibung. Jemand, der um der Ordnung willen ordnet, nicht um des Zwecks willen, denn sein Archiv wird von niemandem mehr genutzt, nicht mal von ihm selbst. Eingerichtet in seiner eigenen Welt. Im Haus seiner Eltern, das er übernahm als seine Mutter starb, und in dem er im Kinderzimmer schläft. Wie früher. Ein Mann, der möchte, dass die Zeit nicht vergeht. Der zwar hinnimmt, dass Dinge verfallen, der aber einen Verlust nicht erträgt.

Ich lernte die Persönlichkeit des Mannes kennen, bevor er mir von früheren Beziehungen zu erzählen begann. Von Beziehungen abseits der zu Franziska, die als Schlagersängerin Fabienne berühmt wurde, während er seinen Weg ins Leben suchte. Bis zur Mitte des Buches, wo ich gerade bin und innehalte, um diesen Text zu schreiben, hat er seine Kindheit und Studentenzeit in Paris beschrieben. Er erzählte von Momenten, die seine Beziehung zu Franziska prägten und er kam über diese Gedanken im Jetzt in eine Situation, in der er zu viel trinkt und seiner Archivar-Tätigkeit nicht mehr nachkommt.

Nun will er aus seinen Routinen ausbrechen und ich befürchte, dass es auf ein Happy End hinauslaufen könnte. Das möchte ich eigentlich nicht. Das erscheint mir zu unrealistisch. Jemand, der sich derart aus der Welt gezogen hat, der so viele Ticks entwickelte, in dessen Kopf es derart wild zugeht, dessen Verhalten man zwischen Autismus und den Zwangsneurosen des Melvin aus »Besser geht’s nicht« verortet, der sollte am Ende nicht der Jugendliebe gegenüberstehen und – plöpp – ist alles »normal«. Aber ma’kucken.

Ein großartiges Buch ist »Das Archiv der Gefühle« auf jeden Fall und ich lese sofort weiter. Der Protagonist denkt Sätze, trifft Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen mag. Als er sein Archiv beschreibt, seine Lust an der hierarchischen Einordnung, bemerkt er: »Wenn alles wie im Internet gleichwertig ist, hat nichts mehr einen Wert.« An einer anderen Stelle denkt er darüber nach, warum er sich nie bei Freunden meldet, auch nicht wenn diese nach ihm Fragen. Er stellt fest, dass es ihn noch nie interessiert habe, Meinungen auszutauschen, und er kommt zu dem Schluss: »Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an.« Da denkt man gerne mal drüber nach. Das Einzige, worüber man nicht nachzudenken braucht, ist das komplett nichtssagende und sich auf nichts in der Geschichte beziehende Buchcover.

Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, aber ich fange an, Seiten aus den Magazinen zu reißen und Flugzeuge zu falten, wie wir es als Kinder getan haben.

Seite 94

Autor Peter Stamm ist Schweizer und 58 Jahre alt. Er studierte zunächst Anglistik an der Universität Zürich, wechselte sein Studienfach dann aber auf Psychologie mit Psychopathologie und Informatik als Nebenfach. Daneben war er als Praktikant an verschiedenen psychiatrischen Kliniken tätig. Die Wahl des Studiums erklärte er damit, dass er mehr über den Menschen als Gegenstand der Literatur erfahren wollte.

»Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm ist gestern, am 25.08.2021 im S. Fischer Verlag erschienen. Die gebundene Printausgabe hat 188 Seiten. Mein Text beschreibt meine Eindrücke nach der Lektüre der ersten 94 Seiten. Warum ich »Halbe Bücher« rezensiere, habe ich hier erklärt.

Bild: Pexels

2 Thoughts

  1. Das erinnert mich daran, endlich ein buch von Peter Stamm zu lesen. Als Persönlichkeit „kenne“ ich ihn schon lange, lese jeden Artikel über ihn – spätestens seit ich auf 3sat das philosophische Gespräch „Sternstunde“ mit ihm sah – ein so gescheiter Mensch, ein toller Typ, einer der Art Intellektuellen, mit denen man auch gerne mal ein Bier trinken würde. Schließlich: Dein Blog gefällt mir sehr gut. Halbe Bücher eingepackt in den berühmten ersten Satz und den letzten von Dir gelesenen – freue mich schon auf den nächsten Beitrag!

  2. Vielen Dank für Dein Feedback!

    Ich hatte von Peter Stamm zuvor tatsächlich noch nichts mitbekommen, was wohl beweist, dass ich mir Bücher nicht nach Autoren aussuche. Allerdings habe ich vorher auch nicht so »bewusst« gelesen wie jetzt, seit ich drüber schreibe. Vermutlich werde ich vom nächsten Buch Peter Stamms was mitbekommen und es dann eher doch statt nicht lesen.

    Auch für diese Entwicklung schreibe ich nun hier drüber. Weil ich durch meine Schreiberei über Schalke 04 gelernt haben, was das alles verändern kann.

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